Ein „kühner Wurf“ unter Druck
70 Jahre Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG): ein Anlass für eine Bilanz über dieses Fundament des Sozialstaates.
von Leo Furtlehner, langjähriger Mitarbeiter des Magazins „Die Arbeit“
Am 1. Jänner 1956 trat das am September 1955 vom Parlament beschlossene ASVG in Kraft. Erstmals wurde damit ein einheitliches Gesetz für die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung aller unselbstständig Erwerbstätigen geschaffen, um welches Österreich international vielfach immer noch beneidet wird.
Das ASVG „als der in Paragrafen gegossene Sozialstaat war zweifellos seinerzeit ein kühner Wurf“, wofür insbesondere auch linke Gewerkschafter:innen jahrelang vehement gekämpft hatten (GLB-Erklärung, 17.9.2005). Das ASVG war -nicht nur ein juristisches Meisterwerk, sondern auch Ausdruck eines neuen sozialen Selbstverständnisses. Federführend dabei war der Gewerkschafter Friedrich Hillegeist (1895-1973).
Durch Pflichtversicherung zur gegenseitigen Absicherung
Mit dem ASVG wurde die Pflichtversicherung eingeführt, die sicherstellte, dass Lohnabhängige automatisch kranken-, unfall- und pensionsversichert sind. Darüber hinaus ermöglichte das Gesetz auch eine freiwillige Selbstversicherung für geringfügig Beschäftigte. Damit wurde ein solidarisches System geschaffen, das auf dem Prinzip der gegenseitigen Absicherung basiert.
Bis in die 1980er Jahre – dem „Goldenen Zeitalter“ – wurden die Leistungen des ASVG durch Novellierungen laufend ausgebaut. Seit dem Wandel vom „Wohlfahrtsstaat“ zum brutalen Neoliberalismus laufen die „Reformen“ des ASVG aber zunehmend auf die Kürzung von Leistungen, vermehrte Eigenvorsorge und Ausdünnung der Finanzierung hinaus: Rezeptgebühren, Spitalsgeld, Besteuerung von Unfallrenten, Ambulanzgebühren, „Pensionsreformen“ usw. sind der Ausdruck dieser negativen Entwicklung.
Dienstgeberbeiträge nach der gesamten Wertschöpfung berechnen
Sozialminister Alfred Dallinger (1926-1989) hatte erkannt, dass die Finanzierungsgrundlage des ASVG auf Perspektive nur durch die Bemessung der Unternehmensbeiträge nach der gesamten Wertschöpfung zu sichern ist. Die Diffamierung seiner Forderung als „Maschinensteuer“ und die Weigerung des ÖGB, Dallingers Konzept offensiv umzusetzen, erleichterten den neoliberalen Einbruch in das soziale Netz.
Zunehmend ist die Entwicklung dadurch bestimmt, öffentliche soziale Leistungen der Marktlogik zu unterwerfen und sukzessive für das private Kapital und dessen Profite nutzbar zu machen. Befeuert wird dies durch die von „Expert:innen“ und Politik erfundene und von Medien eingetrichterte Behauptung, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, daher seien Verschlechterungen und Eigenvorsorge erforderlich.
70 Jahre ASVG: Notwendiger denn je
Es steht für soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und den Schutz vor den Risiken des Lebens. Verteidigung und Weiterentwicklung des ASVG und seiner wesentlichen Grundlagen wie Umlagenfinanzierung, Generationenvertrag und Solidaritätsprinzip sind also keine nostalgische Anwandlung, sondern zukunftsorientiert. Die Schlüsselfrage ist allerdings die Finanzierung des Sozialstaates, die wiederum mit der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zusammenhängt.
