EU-Kommission attackiert Schutzvorschriften
Die zweite Amtszeit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (2024-2029) verkommt zu einem Wunschkonzert der Konzernlobbys. Ihre Botschaft lautet sinngemäß: „Sagt mir, welche Schutzvorschriften euch im Weg sind, und wir erledigen das für euch.“
Mario Taschwer. Ökonom, Politikwissenschaftler und wirtschaftspolitischer Referent bei Attac Österreich
Bei einem Treffen mit deutschen Wirtschaftsverbänden im September 2025 gab von der Leyen die Marschroute vor: „Unsere Wettbewerbsagenda weiß um die Dringlichkeit. Sie bestimmt alles, was ich tue. Aber damit sich konkret alle hinter dieser Agenda vereinen, braucht es auch Ihr Gewicht. Das Gewicht der starken Industrie, des starken Mittelstands und des starken Handwerks. Meine Bitte an Sie ist: Bringen Sie es ein: beim Parlament, beim Rat, bei der Kommission. Dies ist nicht die Zeit für Vetos.”
Die Kommissionspräsidentin ruft also die Konzerne zum Lobbyismus auf. In den nächsten vier Jahren will sie rund ein Drittel der Vorschriften für Konzerne in der EU abschaffen oder verwässern – gebündelt in großen Gesetzesvorschlägen namens „Omnibus“.
Abbau statt Schutz – ein gefährlicher Etikettenschwindel
Von der Leyen verspricht den Konzernen einen beispiellosen Kahlschlag an sozialen, ökologischen und demokratischen Schutzstandards. Damit das Ganze in der Öffentlichkeit besser klingt, nennen sie den Abbau von Schutzvorschriften lieber „Bürokratieabbau“ oder „Regelvereinfachung“.
Viele dieser Schutzvorschriften wurden über Jahrzehnte von Gewerkschaften, Umweltschutzorganisationen und sozialen Bewegungen hart erkämpft. Konzernen hingegen sind viele dieser Regeln schon lange ein Dorn im Auge. Sie sehen darin vor allem Kosten, die ihre Profite verringern.
Angeblich soll das Vorhaben Unternehmen „wettbewerbsfähiger“ machen und die Wirtschaftskrise lösen. Doch das lässt vor allem die Kassen der Reichen und Konzerne klingeln, während wir alle draufzahlen: Härter schuften, dafür gibt‘sniedrigere Löhne und geringere Standards beim Arbeitsrecht. Applaus, Applaus.
Eine Industrie- und Handelspolitik muss auf fairen Wettbewerb, gute Arbeitsplätze und nachhaltige Wertschöpfung in Europa setzen – nicht auf den billigsten Preis weltweit.
Kein Zufall
Diese Politik ist kein Zufall, sie ist das Resultat einer systematischen Einflussnahme und eines intensiven und erfolgreichen Lobbyings der Industrie. Lobbyist:innen sitzen direkt an den EU-Verhandlungstischen – während Organisationen, die im öffentlichen Interesse handeln, ignoriert, an den Rand gedrängt oder sogar attackiert und diskreditiert werden. Konzerne und ihre Lobbyist:innen hatten schon immer viel zu viel Macht in den europäischen Institutionen. Doch mittlerweile macht man sich nicht einmal mehr die Mühe, die offensichtliche Schlagseite der Kommission zugunsten von Konzernen zu verbergen.
Besonders deutlich zeigt das die sogenannte „Antwerpener Erklärung führender Industrievertreter:innen“ im Jänner 2024. Führende Vertreter:innen großer Industriezweige – allen voran der Chemiebranche – forderten darin massive Deregulierung. Ihr Ziel: möglichst weitreichende Erleichterungen für Unternehmen, verbunden mit der Schwächung bestehender Schutzregelungen. Kommissionspräsidentin von der Leyen war bei der Veröffentlichung der Erklärung persönlich anwesend. Ein Jahr später, im Januar 2025, erklärte sie auf einer weiteren Industriekonferenz in Antwerpen offen, sie habe die Botschaft verstanden.
Die Deregulierungswelle: Die gefährlichsten Vorhaben für Gewerkschaften
Bei manchen Deregulierungsplänen muss man sich fragen, ob das noch ernst oder schon Satire ist: Die Kommission will Parallelgesetze für Konzerne einführen.
Dieses Regelwerk heißt „28. Regime“, weil sich die Unternehmen nicht an die Schutzstandards eines der 27 Mitgliedsländer halten müssen, sondern die eines ausgedachten „28. Mitgliedstaats“ anwenden können. Es ist zu befürchten, dass diese Regeln zu einem Wunschkonzert der Konzerne werden: Sie können dadurch nationale Arbeits-, Sozial- und Steuerrechte umgehen und einen Wettlauf nach unten in Gang setzen. Stellen Sie sich vor, ein Paketdienstleister könnte plötzlich seine Fahrer:innen nach schwächeren rumänischen statt österreichischen Standards anstellen – und das, während sie auf österreichischen Straßen fahren.
Wir sagen: Schluss mit dem Kahlschlag!
Unsere sozialen Rechte, der Umweltund Klimaschutz, unsere Demokratie und unsere Gesundheit stehen nicht zum Verkauf. Was es jetzt braucht: starke Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Druck auf die nationalen Regierungen und die europäischen Institutionen ausüben.
Langfristig müssen wir selbst mächtig genug werden, um die Wirtschaft zu demokratisieren. Nur durch die demokratische Planung der gesellschaftlichen Infrastruktur können wir das Leben selbst in die Hand nehmen. Auch wenn wir heute weit weg von dieser Handlungs- und Entscheidungsmacht sind: Unsere Aufgabe ist und bleibt es, die Heuchelei der herrschenden Eliten aufzuzeigen.
Die Arbeit Nr. 3/2025
