
Oktoberstreik: verblassender Erinnerungsort
75 Jahre nach der Streikbewegung vom September und Oktober 1950 verliert der Oktoberstreik als „Erinnerungsort“ an den Kalten Krieg weiter an Bedeutung. Als Kampftradition der österreichischen ArbeiterInnenbewegung sollte er neu entdeckt werden.
Ein Dreivierteljahrhundert ist nunmehr vergangen seit der großen Streikbewegung vom September und Oktober 1950. Der damalige Massenstreik richtete sich gegen das 4. Lohn-Preis-Abkommen, das von Regierung und Gewerkschaftsvertretern geheim ausverhandelt worden war und auf massive Preissteigerungen und Reallohnverluste hinauslief. Insgesamt beteiligten sich am Oktoberstreik etwa 190.000 Beschäftigte aus 770 Betrieben.
Bereits in den Streiktagen wurde von Regierung, Gewerkschaft und Medien eine massive Gegenkampagne gestartet, um den Protest der ArbeiterInnenschaft gegen die sozialen Belastungen als kommunistischen Putschversuch zu diskreditieren. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der Streikbewegung um eine spontane Aktion der unzufriedenen ArbeiterInnenschaft über Parteigrenzen hinweg handelte, wurde die Lohnbewegung bis in die jüngere Vergangenheit herauf als ein von langer Hand geplanter Umsturzversuch der KPÖ interpretiert.
Die Hauptfunktion dieser Geschichtslegende bestand darin, das Besatzungsjahrzehnt als Abwehrkampf gegen die angebliche kommunistische Bedrohung zu deuten und die unmittelbare Nachkriegszeit als erfolgreiches Aufbauwerk von Regierung und Sozialpartnern darzustellen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der Oktoberstreik zu einem zentralen „Erinnerungsort“ der Zweiten Republik, der von aktuellen politischen Interessen umkämpft blieb. Davon zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass zu runden Jahrestagen des Streiks stets in allen großen österreichischen Tageszeitungen lange Beiträge über den Streik erschienen sind. Diese waren meist reißerisch aufgemacht und auf die Frage reduziert, ob es sich um einen kommunistischen Putschversuch gehandelt habe.
ÖGB 2015: kein Putsch
Vor nunmehr zehn Jahren, im Oktober 2015, fasste der ÖGB-Bundesvorstand den Beschluss, dass die Legende vom „Kommunistenputsch“ als wissenschaftlich widerlegt zu betrachten sei. Die nach dem Streik aus dem ÖGB ausgeschlossenen 78 GewerkschafterInnen wurden rehabilitiert. Auf der einen Seite ist diese Neubewertung der Streikbewegung durch den ÖGB ein gewaltiger geschichtspolitischer Fortschritt, markiert er doch gewerkschaftsintern den Schlusspunkt unter eine der langlebigsten Legenden der österreichischen Geschichte. Auf der anderen Seite reflektiert dieser Beschluss aber auch die Tatsache, dass der Oktoberstreik als zentraler „Erinnerungsort“ der Zweiten Republik an Bedeutung verloren hat. Der sichtbarste Ausdruck dieser Entwicklung besteht darin, dass der Oktoberstreik zum 75. Jahrestag – ganz im Gegensatz zu früheren Jahren – keinerlei Niederschlag in Zeitungen und Zeitschriften gefunden hat. Es ist dieses Jahr nicht ein Beitrag erschienen, der an die Streikbewegung im Jahr 1950 erinnert hätte.
Während der Oktoberstreik als „Erinnerungsort“ an den Kalten Krieg weiter verblassen wird, geht es für die Gewerkschaftsbewegung darum, ihn als „Erinnerungsort“ an die sozialen Auseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit erst zu entdecken. Es steht noch aus, den Streik als Kampftradition der österreichischen ArbeiterInnenbewegung stärker ins Geschichtsbild des ÖGB zu integrieren. Die Streikbewegung im Herbst 1950 ist ein Beleg dafür, dass die damalige Belastungspolitik nicht ohne Widerspruch über die Bühne gegangen ist, was ihr vor dem Hintergrund der aktuellen Situation eine besondere Aktualität verleiht. Teuerung und Reallohnverluste sind heute erneut dominierende Erscheinungen der kapitalistischen Entwicklung. Entscheidend wird sein, ob der ÖGB – wie schon 1950 – wieder auf der falschen Seite der Barrikade steht oder ob er der Rotstiftpolitik der Regierung entschlossene Gegenwehr entgegenzusetzen wird.
Manfred Mugrauer (Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes)