35-Stunden-Woche als Option

Er wird von einem „historischen Tarifabschluss“ sprechen, Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft der Deutschen Lokomotivführer (GDL). Knapp fünf Monate hatte sich der Tarifkonflikt zwischen der GDL und der Deutschen Bahn AG (DB AG) bzw. ihrem Arbeitgeberverband AGV MOVE hingezogen.

Das volle Programm: Gesprächsrunden, Warnstreiks, Verhandlungsabbruch, Gerichtstermine, Schlichtung und abermals Aufrufe zum Arbeits- ausstand. Zwei kampferprobte Kontrahenten also, die sich da gegenüberstanden – und schließlich doch „sozialpartnerschaftlich“ zusammengekommen sind.

Lange Laufzeit des Vertrags

Und das Ergebnis? „Wir haben keinen Misserfolg, sondern einen Erfolg, fast auf der ganzen Linie“, meinte Weselsky zum Tarifabschluss. Eine Lesart, die nicht alle Beobachter teilen. Zurecht. Kommen wir zunächst zum Kernstück des Vertragswerks: der Einführung der 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter beim staatlichen Bahnkonzern. In Etappen, aber bei vollem Lohnausgleich.

Von der Schicht- und Wechselarbeit sind bei der DB in Deutschland rund 120.000 der 215.000 Kollegen betroffen. Dabei soll die Wochenarbeitszeit von derzeit 38 Stunden im Januar 2026 auf 37 sinken. Ein Jahr später auf 36, ferner 2028 und 2029 jeweils um eine weitere halbe Stunde. Unterm Strich ist die 35-Stunden-Woche mit Beginn des Jahres 2029 erreicht.

Aber: Der Abschluss fixiert ein so genanntes Optionsmodell, einen „Korridor“ von 35 bis 40 Stunden Wochenarbeitszeit. Und nur die erste Stufe der Arbeitszeitreduktion tritt automatisch ein. Alle weiteren müssen die Beschäftigten individuell arbeitsvertraglich einfordern.

Das Ergebnis

Die Entgelte für die Bahnbeschäftigten steigen im August um 210 Euro, im April 2025 um weitere 210 Euro. Zudem bekommen die Bahner eine steuer- und abgabenfreie Inflationsprämie von 2.850 Euro, ausgezahlt in zwei Tranchen. Der Tarifvertrag gilt bis Ende 2025. Anschließend greift eine zweimonatige Friedenspflicht mit einer Art Schlichtungs- verpflichtung.

Erst ab dem 1. März 2026 dürfte die GDL die DB-Belegschaft wieder zum (Warn-)Streik mobilisieren. Übersetzt: Die Laufzeit des Tarifvertrags umfasst 26 Monate. Zum Vergleich: Weselsky hatte ursprünglich ein monatliches Entgeltplus von 555 Euro und eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden für Schichtarbeiter bis 2028 gefordert. Und das bei einer zwölfmonatigen Laufzeit des Tarifvertrags.

Vorstand zufrieden

Wenig verwunderlich, DB-Personalvorstand Martin Seiler zeigte sich ob des Vertragswerks zufrieden. „Mit der selbstbestimmten Wochenarbeitszeit werden die Bahnberufe insgesamt attraktiver und Leistung lohnt sich.“ Das heißt, wer sich für mehr Arbeit entscheidet, erhält pro Stunde 2,7 Prozent mehr Lohn.

Ein Beispiel: Lokführer oder Zugbegleiter verdienten bei einer 40-Stunden-Woche rund 14 Prozent mehr als bei einer 35-Stunden-Woche, rechnete Seiler vor. Mehr noch: „Wir haben von Anfang an betont, dass eine stumpfe Arbeitszeitverkürzung, die allen zwangsweise übergestülpt wird, absolut nicht zeitgemäß ist.“ Niemand bekomme durch den Tarifvertrag bis zum Ende des Jahrzehnts „zwangsweise eine 35-Stunden-Woche.“

„Willkür“ der DB-Bosse

Davon unabhängig, das Hauptproblem ist: Der Tarifvertrag gilt nur für den Geltungsbereich der GDL. Der Grund: Die Bahn wendet seit 2021 das „Tarifeinheitsgesetz“ (TEG) an. Danach kommt in den knapp 300 DB-Betrieben ausschließlich der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft zur Anwendung. Laut DB- Vorstand ist das bei der im Deutsche Beamtenbund (DBB) organisierten GDL derzeit lediglich in 18 Betrieben der Fall.

Überall sonst würde die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Mitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dominieren. Gegen diese „Willkür“ der Bahn-Bosse geht die GDL seit Jahren juristisch vor; ein Prozedere mit offenem Ausgang, höchstrichterliche Entscheidungen fehlen bislang. Das wiederum bedeutet, dass nur ein Bruchteil der DB-Beschäftigten beispielsweise von der Option, weniger arbeiten zu müssen, tarifvertraglich profitieren wird.

Ein Viertel dagegen

Das wissen die GDL-Mitglieder. Auch deshalb dürfte fast ein Viertel der Stimmberechtigten bei der Urabstimmung gegen den Tarifabschluss gestimmt haben. Hinzu kommt: Das Vertragswerk entspricht im Wesentlichen dem der EVG, das bereits im August 2023 mit der DB abgeschlossen worden war. Eine Arbeitszeitverkürzung spielte damals bei den Verhandlungen keine Rolle. Aber bereits im April 2025 steht die nächste Tarif- runde mit der EVG an.

Was bleibt vom „historischen Tarifabschluss“? Vor allem das: Es ist Weselskys „Abschlussarbeit“, der 65-Jährige tritt im Juni in den Ruhestand. Nachfolgen soll Mario Reiß, sein Stellvertreter. Die Fußstapfen, die der seit 2008 amtierende Sachse hinterlassen wird, sind groß. Eines hat der Nachrücker in spe mit seinem Vorgänger gemeinsam, mindestens: die Ausbildung als Schienenfahrzeugschlosser und Lokomotivführer – bei der Deutschen Reichsbahn der DDR.

Oliver Rast ist Journalist der Tageszeitung „Junge Welt“

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