Lehre oder Leere?

Josef Stingl über die Personalmisere in der Pflege

Dem Pflegepersonal geht die Luft aus. Bei der Befragung „Ich glaub´, ich krieg die Krise“ gaben mehr als drei Viertel an, zumindest eine „geringe“ Depressionsbelastung zu haben.

Schlafprobleme, Vergesslichkeit und Konzentrationsprobleme sind dabei die drei häufigsten Belastungsformen. Mehr als vier Zehntel denken monatlich mindestens einmal an einen Berufswechsel oder -ausstieg.

Ab Herbst 2023 soll eine Pflegelehre den herrschenden Personal-Notstand kurieren. In einem Modellversuch in Niederösterreich, Oberösterreich und Vorarlberg werden Jugendliche nach der Pflichtschule mit einer dreijährigen Lehrzeit zur Pflegeassistent:in und in einer vierjährigen zur Pflegefachassistent:in ausgebildet.

Mit 15 sind die Jugendlichen selbst noch in einem psychologisch sensiblen Entwicklungsstadium. Die Tätigkeit an Patient:innen ist daher unzumutbar. Dies soll trotz dualer Ausbildung umschifft werden. Sie sollen bis zum 17. Lebensjahr, also zwei Ausbildungsjahre lang, nur für Hilfstätigkeiten herangezogen werden dürfen.

Längere Ausbildungszeit = bessere Ausbildung?

Bisher musste bei der Ausbildung zur Pflegeassistent:in und Pflegefachassistent:in mindestens ein Drittel der Ausbildungsdauer auf die praktische und mindestens die Hälfte auf die theoretische Ausbildung entfallen. In einer klassischen Lehrausbildung liegt der Schwerpunkt bei der praktischen Arbeit, für die Theorie bleiben nur 20 Prozent. Um den theoretischen Ausbildungsstandard aufrechtzuerhalten, sind umfangreiche Sonderregelungen nötig.

Dies wirft die Frage auf, ob bei der Notwendigkeit einer solchen Vielzahl von Ausnahmen vom Grundmodell die Lehre wirklich eine geeignete Ausbildungsform für Pflegeberufe darstellt. Ebenfalls ungeklärt ist, wo nach den Pilotversuchen der schulische Teil der Ausbildung stattfinden soll. Werden eigene Berufsschulen geschaffen oder bleibt es bei den bestehenden Ausbil- dungsstätten?

Positiv anzumerken ist, dass bis jetzt die geltende Judikatur für die Ausbildung als Pflegeassistent:in keinen Berufsschutz zuließ. Mit der neuen dreijährigen Ausbildungszeit müsste dieses Manko der Vergangenheit angehören.

Kontroverse Diskussion

Die SPÖ und die NEOS stehen der Pflegelehre kritisch gegenüber. ÖVP, Grüne und FPÖ sehen darin enormes Potential im Pflegebereich dem Pflegefachkräftemangel entgegenzuwirken. Ebenfalls der Pflegelehre zugetan, zeigt sich die Wirtschaftskammer, ist doch die Lehrlingsausbildung in ihrem Wirkungsbereich angesiedelt. Und die zweijährige Hilfsdienst-Bestimmung sorgt für ihre Klientel, billige Handlanger und Putzhilfen zu erhalten. „Das widerspricht dem Sinn einer dualen Ausbildung und fördert keineswegs die Attraktivität des Pflegeberufs, eine hohe Drop-out-Rate ist zu befürchten”, warnt der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV).

Ablehnung zur Pflegelehre kommt vom ÖGB und der Arbeiterkammer. Ihre Kritikpunkte: Den Arbeitskräftemangel und die steigenden Kosten durch den Einsatz von Jugendlichen im Rahmen einer Lehrausbildung abzufedern, passt weder ins Lehrausbildungs-System noch eröffnet das jungen Menschen weitere Perspektiven. Außerdem ist mit einer weiteren Belastung für das bestehende Personal zu rechnen. Mit der Ausbildung junger Menschen kommt zu den bestehenden schlechten Rahmenbedingungen und dem Personalnotstand eine zusätzliche, wesentliche Aufgabe hinzu.

Ausbildung aufwerten

Kritikpunkte, denen sich der Gewerkschaftliche Linksblock (GLB) im ÖGB inhaltlich nur anschließen kann. Der Wiener GLB-AK-Rat und Krankenpfleger Patrick Kaiser meint etwa, dass es in der Pflege keiner „ausbrennfähiger Dumping-Kräfte” bedarf, sondern mehr hochqualifiziertes Personal und bessere Arbeitsbedingungen braucht. „Das verlangt eine bezahlte Ausbildungsoffensive für hochqualifizierte Spezialist:innen in allen Bereichen der Daseinsvorsorge.”

Der Tiroler Pflegeassistent und Gewerkschaftliche Linke/GLB-Betriebsrat Daniel Spiegl schlägt ebenso in die Kerbe der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen: „Bei der Pflegelehre handelt sich um eine kontraproduktive Pflege-Leere. Der Pflegepersonal-Notstand erfordert mehr Geld, mehr Freizeit und mehr Personal durch eine qualifizierte Ausbildung.

Analog zur  Polizei

Der GLB verlangt daher in seinem Sieben-Punkte-AK-Wahlprogramm „eine qualitativ aufgewertete Pflegeausbildung mit einem existenzsichernden Einstiegsgehalt analog zu den Polizeischüler:innen.” Übrigens, der GLB hat bereits im Mai 2021 bei der AK-Vollversammlung in Wien den Antrag auf eine angemessene Entlohnung, wie etwa bei den Polizeischüler:innen, während der Ausbildung zur professionellen Gesundheits- und Krankenpflege eingebracht. Damals wurde der Antrag von den Sozialdemokratischen Gewerkschafter:innen abgelehnt – in der Zwischenzeit dürfte auch bei der FSG die Vernunft dazu eingekehrt sein.

Josef Stingl ist stellvertretender Bundesvorsitzender des GLB

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