Goldene Hochzeit der „Arbeitsverfassung“

Abseits von frenetischem Beifall in Gewerkschaftsmedien: Was bedeuten die politischen Vermächtnisse der Rätebewegungen im Hier und Jetzt? Dass vielen Menschen unsere Form der Demokratie völlig lebensfern erscheint, liegt zu einem großen Teil an fehlenden Rechten von arbeitenden Menschen in den Betrieben. Ein Arbeitsverfassungsgesetz, das diesen Namen verdient, scheint heute noch weiter entfernt als im Jahr 1974. Obwohl es innerhalb dieses Beitrages nicht möglich ist, erschöpfend auf die Arbeitsverfassung einzugehen, sollen hier kurze Elemente ihrer Entstehung und exemplarische Zukunftsszenarien skizziert werden.

Das Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919

Unter dem Eindruck der Räterepubliken in Ungarn und München war die nach dem Ersten Weltkrieg mitregierende Sozialdemokratie bestrebt, die Basis in die Staatsbürokratie einzubinden: Österreich wurde das erste Land mit einem Betriebsrätegesetz – auch um die Fabriksräte zu institutionalisieren. Das Gesetz brachte formale Fortschritte gegenüber den fast völlig rechtlosen, gewerkschaftlichen Vertrauensmännern aus der Monarchiezeit.

Realpolitisch bedeutete das neue Gesetz in Teilen des Landes einen machtpolitischen Rückschritt gegenüber den Anfangsmonaten nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, als Arbeiter- und Soldatenräte in den Fabriken die Produktion von lebenswichtigen Gütern wieder ins Laufen gebracht hatten. Der Kerngedanke des Rätesystems – die Demokratisierung – wurde als Erstes weit verbogen bis abgewürgt. Selbst die wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechte und der Kündigungsschutz blieben höchst unzureichend. Ausgehend davon konnten Kollektivverträge vielerorts nur schwer bis gar nicht durchgesetzt werden.

Das neue Betriebsrätegesetz vom 28. März 1947

Nach der stark repressiven bis äußerst totalitären Zeit der beiden Faschismen erschien die Lage im Jahr 1945 ernst, aber nicht hoffnungslos: Arbeitende hatten, teils bewaffnet, die völlige Zerstörung der Produktionsmittel verhindert. Weitaus klarer als 1918 erschien großen Teilen der Gesellschaft, dass die Zukunft dem Sozialismus gehöre: Besonders in Großbetrieben oblag die Führung und Verwaltung der Unternehmen den Organen der Arbeiterschaft, die wie beispielsweise Agnes Primocic in Hallein oder Sepp Filz in Donawitz über jahrzehntelange Betriebsexpertise verfügten.

Mit dem neuen Gesetz von 1947 restaurierten ÖVP und SPÖ weitgehend den Zustand der Vorkriegszeit. Einzig die KPÖ kampagnisierte in Betrieben und stimmte im Parlament aus skizzierten Gründen dagegen. An der Basis stimmte die Sozialdemokratie in Resolutionen wortkarg resignierend mit den Kommunist/innen, nicht zuletzt bei der Alpine Montan Gesellschaft in Leoben-Donawitz.

Das Arbeitsverfassungsgesetz vom 1. Juli 1974

Das als Regierungsvorlage eingebrachte Gesetz wurde trotz SPÖ-Alleinregierung einstimmig mit ÖVP und FPÖ beschlossen. Die KPÖ war nicht mehr im Nationalrat vertreten. Wie schon 1947 sind nicht die Vorschläge der Arbeiterkammern oder Betriebsräte entscheidend, sondern erfolgt ein vermeintlicher „Klassenkompromiss“ mit Wirtschaftskammer und Industriellen. Bis heute durch gesetzliche Untätigkeit verhindert wurde ein „voller Immunitätsschutz“ für Betriebsrät:innen, wie ihn der Gewerkschaftliche Linksblock (GLB) fordert. Dessen Notwendigkeit hatte sich bereits bei den hegemonial niedergerungenen Streiks bei Böhler Ybbstal und der Favoritner Polster-Produktionsfirma Hukla gezeigt.

Die Verabschiedung des ArbVG konnte schon in den ersten Jahren nicht verhindern, dass die Organe der Arbeitnehmer/innen erpressbar sind: Bei der GFM-Maschinenfabrik in Steyr beendete der Angestelltenbetriebsrat nach Drohung einer Betriebsstillegung seine Tätigkeit. Anderswo wurden Lücken im Kündigungs- und Entlassungsschutz für Repression genutzt: Äußerst ungenau ist die Gesetzgeberin beim Begriff „Betriebs- und Geschäftsgeheimnis“ geblieben, woran die Judikatur wenig ändert. Ein schwacher Versetzungsschutz führt zur personell motivierten Torpedierung engagierter, betriebsrätlicher Arbeit.

Historiker Mugrauer weist dazu in aufwändiger Recherche anhand von Betriebsratswahlergebnissen nach, wie der in den frühen 1970er Jahren gesteigerte Einfluss von GE/GLB nach der Einführung des ArbVG in Folge von „Betriebsterror“, Kapitalismuskrisen und von oben verordneter, sozialpartnerschaftlicher Lohnpolitik wieder verpufft. Ökonom Schiller analysiert die fehlende Solidarität innerhalb der Gewerkschaftsbewegung sehr ausführlich.

An ÖGB-Präsidenten Anton Benya gerichtete Vorschläge der kommunistischen Fraktion GLB aus dem Jahr 1978 lesen sich heute noch aktuell, weil die Gesetzesnovellen der folgenden Jahrzehnte nur zu wenigen, positiven Änderungen führten. Aus Sicht des Jahres 2024 ist besonders bemerkenswert, dass der GLB nicht nur für die Ausweitung der kollektiven Rechte, sondern auch für die individuellen Grundrechte eintritt: „Die Garantie der Menschenrechte auf persönliche Freiheit, Schutz der Persönlichkeits- und Privatsphäre sowie der Menschenwürde“. Scheinbar profane Forderungen des Linksblocks, wie die Abschaffung der Unterschriften für die Wahlvorschläge bei Betriebsratswahlen, sind bis heute unverwirklicht geblieben. Obwohl gleichzeitig der Kündigungsschutz der Betroffenen nicht erhöht wurde.

Stärker noch als das bereits wenig konkludente Mietrecht ist das Arbeitsrecht in zahlreichen Gesetzen und Judikatur auf das Äußerste fragmentiert: Folgerichtig fordert der GLB in seinem Grundsatzprogramm bereits vor 37 Jahren die „Zusammenfassung des Arbeitsrechtes in einem einzigen Arbeitsgesetzbuch, das in einer verständlichen Sprache abzufassen ist“, aber auch das höchst aktuelle „Ende von Rationalisierungen auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten“. Beide kommunistischen Forderungen sind wichtiger denn je, aber sehr weit von einer konkreten Realisierung im Interesse der Werktätigen entfernt.

Arbeitsverfassungsgesetz im Jahr 2014

Angesichts von Digitalisierung, Modernisierung und eines Voranschreitens des neoliberalen Projektes mehren sich innerhalb der Sozialdemokratie wieder Stimmen aus der Praxis: Bereits zum 40-Jahr-Jubiläum werden viele rechtspolitische Problemfelder kritischer und offenkundiger erörtert. Nichtsdestotrotz sind zehn Jahre später viele weiter ungelöst.

Die Regierungsbeteiligung der FPÖ hat die Widersprüche verschärft: Das aus neun Teilen und zahlreichen Hauptstücken bestehende Gesetz ist entgegen seinem Namen eben keine Verfassung mit entsprechend entlang der Menschenrechte definierten Politikverboten. Einfache Regierungsmehrheiten können bereits großen Schaden anrichten, was auf die allermeisten arbeitsrechtlichen Materien abseits des Unionsrechtes der EU zutrifft.

Der Salzburger Arbeitsrechtler Klaus Firlei gehört zu den frühen Kritikern der Arbeitsverfassung. In Einklang mit den GLB-Forderungen der 1970er und 1980er Jahre nach Kündigungsimmunität formuliert er im Jahr 2014 die rechtspolitische Idee des „Betriebsbürgers“: Ähnlich wie eine Staatsbürgerschaft im Normalfall nicht entzogen werden kann, könnten Arbeitende zu Betriebsbürger/innen mit verfassungsmäßigen Rechten werden.

Firlei verweist neben dem sich wandelnden Arbeitnehmer/innen-Begriff (Crowd-Work) und Betriebsbegriff (globale und digitale Betriebe) zu Recht auf ökonomische Probleme der bereits in klassisch-fordistischen Verhältnissen nicht funktionierenden Arbeitsverfassung. Essenz: Es gibt einen „unfairen Wettbewerbsvorteil“ der Unternehmer ohne Betriebsrat, immerhin die absolute Mehrheit. Daraus lässt sich folgern, die Sozialpartnerschaft lässt ausgerechnet jene im Stich, die trotz Markt bereit sind, nach deren Spielregeln zu agieren?

50 Jahre Autoritarismus: Wieder Druck von unten?

Dass die Goldene Hochzeit des Arbeitsverfassungsgesetzes mit einer Nationalratswahl zusammenfällt, mag eine Chance der Geschichte sein: Tatsächlich fehlte bereits bei dessen Einführung eine kommunistische Opposition im Bundesparlament. Viele Fragen rund um die Arbeitswelt bedürfen einer echten Arbeitsverfassung im Sinne eines Grundrechtskataloges.

Dabei geht es nicht um Utopie, sondern konkret damit verknüpfbare Ziele: Gemeinnützigkeit, Demokratisierung, Bürokratieabbau, Gesundheitsschutz, Menschenwürde Ökologisierung und Frieden. Die Begrenztheit der Politik von Sozialpartnerschaft, um sinngemäß auf Alfred Dallinger Bezug zu nehmen, wird diese Ziele weiter aus den Augen verlieren. Umso wichtiger ist, dass Kommunist/innen sich der Vorarbeit ihrer Fraktion besinnen und diese konkret für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aktualisieren.

Die Sanktionsregime innerhalb der Betriebe und Gewerkschaften verhindern eine stärkere Mobilisierung der Beschäftigten. Vereint, entlang den Ressourcen einer konsequenten Interessensvertretung der arbeitenden Menschen – also einer sinnvollen und erfolgreichen Kommunistischen Partei – lassen sich nicht nur Gesetze verbessern.

Es kann eine wechselseitige Inspiration der Kämpfe von unten mit sich bringen, wenn eine solche Partei die Ebenen der Einflussnahme miteinander erfolgreich verknüpft. Damit ist nicht Parlamentarismus im bürgerlichen Sinn gemeint, sondern eine darüber hinausragende Vision von Zusammenleben und Arbeiten im 21. Jahrhundert.

Ewald Magnes ist Angestellter bei UniCredit Services und GLB-Kandidat bei der Arbeiterkammerwahl in Wien

Quelle: Volksstimme 5/2024

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