Mittel gegen die Vielfachkrise

Peter Karl Fleissner über zukunftsorientierte Industriepolitik.

Nach der kaum überstandenen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise erlauben weitere Krisen kaum ein Atemholen. War zu Beginn der Corona-Epidemie bei manchen Linken Hoffnung auf Veränderung aufgekommen, ist mit der zweiten Covid-Welle wieder eine nüchterne Betrachtung der Situation zurückgekehrt.

Der rechtzeitig verordnete Lockdown im März hat zwar die Ansteckungszahlen zunächst reduziert, aber im Weiteren auch gezeigt, wie schlecht der Kapitalismus mit umfassenden Krisen umgehen kann. Engpässe im Gesundheitswesen, beim Personal auf Intensivstationen, fehlende Masken, Medikamente und Schutzkleidung wiesen auf globale Lieferketten hin, die im Fall der Krise wegbrachen. Ausfälle im Tourismus und Personentransport, mangelnde Exportnachfrage und geringere Kaufkraft durch Massenarbeitslosigkeit und Kurzarbeit führten bis zu zweistelligen Einbrüchen des Wirtschaftswachstums.

Frage der Zeit

Das massenhafte Sterben von Kleinbetrieben in manchen Branchen ist mit Andauern der Corona-Krise nur noch eine Frage der Zeit. Die Europäische Union agierte bisher eher glücklos, weder gegenüber der Pandemie noch in der Flüchtlingsfrage bot sie gangbare und humane Lösungen.

Es ist Zeit, neue Konzepte auszuarbeiten und anzuwenden. Eine zukunftsorientierte Industriepolitik ist ein wichtiger Bestandteil für die Neugestaltung einer Gesellschaft. Sie steht heute objektiv auf der Tagesordnung, auch wenn sich Macht- und Profitinteressen dagegen sträuben. Es ist klar, dass die Industrie dabei eine wichtige Rolle spielt. Sie ist aber auch nur ein Bereich von mehreren, der menschengerecht umgestaltet werden muss.

Industrie 4.0

Die Anforderungen sind groß, aber auch die Widersprüche, die dabei auftreten können. Unterstützt von der EU setzen die offiziellen Unternehmensvertreter in allen Mitgliedsländern auf die erweiterten technologischen Konzepte von Industrie 4.0. Dabei sollen nicht nur die Produktions- und Liefervorgänge einer weiteren Automatisierungswelle unterworfen, sondern auch Teile des Dienstleistungssektors in ein umfassendes System von automatisierten Melde-, Bestell- und Reparaturvorgängen einbezogen werden. Es wird aber so gut wie nichts über die Folgen für die arbeitenden Menschen gesagt, außer dass sie sich den Umstellungen möglichst rasch anpassen sollen.

Verschiedene Autor*innen aus Politik und Wissenschaft haben dazu schon seit längerer Zeit ihre Stellungnahmen abgegeben. Sie sind sich einig, dass eine Debatte um Industriepolitik nicht nur den Bereich von Industrie im engeren Sinn einbeziehen muss, sondern die wichtigsten Aspekte der Entwicklung des gesamten Gesellschaftssystems berücksichtig werden müssen.

Gemeinsames Ziel

Verschiedene politische Gruppen in der EU erheben Forderungen, die auf dieses gemeinsame Ziel orientieren:
– Die Gewerkschaften Europas fordern Lohnerhöhungen und Schutzmaßnahmen gegen Lohndumping-Methoden, echte Partizipation und die Erhaltung von Arbeitsplätzen in der weiteren Transition zu grüner Produktion und Digitalisierung.
– Das Europäische Netzwerk Transform fordert eine Industriepolitik, die auf demokratischen Konsultationen beruht.
– Diem25 verlangt eine Rückverlagerung der Wertschöpfungsketten in die EU.
– Euromemo wünscht sich eine Reduktion der Unterschiede der Arbeitsproduktivität zwischen den EU-Regionen der Peripherie, um deren Konkurrenzfähigkeit zu verbessern.
– Vertreter einer „progressiven“ Industriepolitik machen zu Recht darauf aufmerksam, dass an der Umgestaltung von Produktion und Konsum in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit kein Weg vorbeiführt, dass die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energieträger in die Praxis umgesetzt werden muss und dass klimaschädliche Gase und der Gebrauch von Kunststoffen reduziert werden müssen.
– Auch ein provisorisches Bedingungsloses Grundeinkommen für die Corona-Zeit wäre überlegenswert.

Aber das ist noch lange nicht alles. Ein besseres Leben wird nicht allein von der Versorgung mit Industriewaren bestimmt. Dazu gehört auch der Zugang zu Gesundheit und Bildung, Wohnen und Pflege. Diese Zugänge dürfen den Menschen nicht in der Form von Almosen zugeteilt werden, sondern als Recht für jede Frau und jeden Mann. Voraussetzung dafür ist ein Ausbau der demokratischen Strukturen insgesamt, die nicht auf das (leider vielen noch immer verwehrte) Wahlrecht beschränkt werden dürfen.

Wirtschaftsdemokratie

Es scheint mir angebracht, an eine Forderung der KPÖ vor 75 Jahren in der ersten Nachkriegsregierung der Zweiten Republik zu erinnern. Nach dem Sieg über die Nationalsozialisten und der Befreiung Österreichs stellte Karl Renner in einem Brief an Stalin, der ihn mit der Bildung einer Provisorischen Regierung betraut hatte, fest, „dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehöre“.

Dennoch stellte er sich gegen eine von der KPÖ vorgeschlagene Verfassung, die erweiterte Grundrechte (Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung), die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie und sozialpolitische Reformen (Mitbestimmung in den Betrieben, demokratische Verwaltung von unten bis oben) enthielt. Er ließ den Einwand der KPÖ gegen sein „Verfassungsüberleitungsgesetz“ nicht einmal protokollieren.

Peter Karl Fleissner ist Ökonom und lebt in Wien

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