Neues Selbstbewusstsein

Im April 2024 stimmten 73 Prozent der VW-Beschäftigten in Chattanooga (Tennessee) dafür, sich der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) anzuschließen. Gut für die Beteiligten, aber darüber hinaus? Je weiter man herauszoomt, desto größer erscheint dieses Ergebnis.

Der geografische Kontext

Im Süden der USA ist das Leben in vieler Hinsicht prekärer als im Rest des Landes, die Gehälter geringer, die sozialen Infrastrukturen oft desolat. Viele US-Unternehmen – aber eben auch deutsche Firmen wie VW und Mercedes – lassen gezielt in Staaten wie Tennessee produzieren, weil dort besonders gewerkschaftsfeindliche Gesetze herrschen.

Arbeitskämpfe sind deshalb generell noch härter, jeder Erfolg umso mehr wert. Das VW-Werk in Chattanooga ist die erste Autofabrik im Süden seit den 1940er Jahren, in der eine gewerkschaftliche Vertretung durchgesetzt werden konnte. Unter den ausländischen Herstellern ist es sogar das erste Werk überhaupt. Chattanooga ist kein Einzelfall, sondern Symptom größerer Entwicklungen, womöglich sogar einer allmählichen Machtverschiebung zwischen Arbeiter:innenklasse und Kapital.

Zahlreiche US-Gewerkschaften haben zuletzt Ausrufezeichen gesetzt: Lehrer:innen konnten in West Virginia, Oklahoma und Arizona durch Streiks nicht nur akzeptable Gehälter, sondern allgemein bessere Lernbedingungen erreichen. Neue Graswurzel-Gewerkschaften wie die Amazon Labor Union und Starbucks Workers United sind entstanden und haben erste Standorte erfolgreich organisiert. Von den Drehbuchautor:innen in Hollywood über den Gesundheitssektor und die Gastronomie bis zu Paketzulieferern von UPS: In diversen Branchen wurden zuletzt bessere Tarifverträge erkämpft.

2023 gab es landesweit die meisten Streiks seit zwei Jahrzehnten. Mehr Amerikaner:innen traten einer Gewerkschaft bei als seit 2000. Möglich auch, weil die für Arbeitsrecht zuständigen Behörde NLRB eine progressive Spitze hat. Laut Umfragen sagen rund 70 Prozent der US-Bevölkerung, dass sie Gewerkschaften grundsätzlich unterstützen – eine vergleichbar hohe Zustimmung gab es zuletzt in den 1960er Jahren. Auch die Medien berichten unterm Strich ausführlicher über Arbeitsthemen.

Eine Rückkopplungsschleife

Menschen hören von effektiven Arbeitskämpfen, trauen sich selbst die Konfrontation zu, was wiederum andere von effektiven Arbeitskämpfen hören lässt. Eine Rolle spielt auch die neu formierte Linke: Mehr junge Aktivist:innen suchen Jobs in bestimmten Sektoren, um dort gezielt die Organisierung voranzutreiben.

„Salting“ nennt sich das, wo es noch gar keine Gewerkschaft gibt; „Industrializing“, wenn eine bestehende Gewerkschaft von innen radikalisiert wird. In neuen Einrichtungen wie Emergency Workplace Organizing Committee und Inside Organizer School lernen Beschäftigte, sich zu organisieren. Dahinter steckt die Überzeugung, dass Gewerkschaften am wirksamsten sind, wenn sie von den Arbeiter:innen selbst, und nicht von Funktionär:innen geführt werden.

Geringe Organisierung

Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bedingungen der US-Gewerkschaftsbewegung im historischen Vergleich weiterhin schlecht sind. Waren 1983 noch 20,1 Prozent aller Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, meldete das Arbeitsministerium für 2023 lediglich zehn Prozent. Im Privatsektor sind es sogar nur sechs von hundert Beschäftigte. Die Umbrüche der deindustrialisierten Arbeitswelt, Jahrzehnte der Privatisierungspolitik und systematische Gewerkschaftsbekämpfung haben ihre Spuren hinterlassen. Gewerkschaften wie Teamsters und UAW fielen über lange Zeit eher durch Korruptions- skandale auf, als sich konsequent für ihre Mitglieder einzusetzen.

Insbesondere der Wandel der UAW sticht heraus. Der Gruppe Unite All Workers for Democracy ist es gelungen, die UAW von innen zu reformieren. Erst setzte sie durch, dass jedes Mitglied die Gewerkschaftsführung wählen kann. Im März 2023 wurde mit Shawn Fain ein Linker neuer Präsident. Im Herbst 2023 streikten die UAW gegen General Motors, Ford und Stellantis und erreichten eine Lohn- erhöhung von 25 Prozent.

Wirkung auf die Politik

Die neue Arbeiter:innenbewegung wirkt immer stärker auch in die Politik hinein. Präsident Joe Biden besucht Streikposten und betont die Wichtigkeit von Gewerkschaften. Fraglich bleibt jedoch, ob diese Unterstützung auch hält, wenn sich die Arbeitskämpfe zuspitzen und die Regierung Druck großer Unternehmen und Spender bekommt.

UAW-Präsident Fain gab kürzlich bekannt, dass die neuen Tarifverträge mit Ford, General Motors and Stellantis bewusst am 30. April 2028 auslaufen. Sollten die Unternehmen Verhandlungen nicht auf die Forderungen eingehen, soll im Verbund mit anderen Gewerkschaften am 1. Mai 2028 ein landesweiter Generalstreik stattfinden.

Lukas Hermsmeier arbeitet als Journalist und freier Autor in New York

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